Insolvenzakte: Hat der Aussonderungsberechtigte ein Einsichtsrecht?
Zu der bislang ungeklärten Frage, ob der Aussonderungsberechtigte als Partei im Sinne des § 299 Abs. 1 ZPO oder als Dritter im Sinne des § 299 Abs. 2 ZPO anzusehen ist, sowie zu der umstrittenen Frage seines rechtlichen Interesses an der Akteneinsicht hat das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) jüngst eine Entscheidung getroffen. Entgegen der herrschenden Meinung in der Literatur hat das BayObLG den Aussonderungsberechtigten nicht als Verfahrensbeteiligten im Sinne des § 4 InsO i. V. m. § 299 Abs. 1 ZPO angesehen (vgl. BayObLG, Beschl. v. 18.09.2024 – 102 VA 16/24). Vielmehr gilt der Aussonderungsberechtigte im eröffneten Insolvenzverfahren wie der Massegläubiger als Dritter im zivilprozessualen Sinne, der grundsätzlich auch Akteneinsichtsrechte geltend machen kann.
Wer darf die Insolvenzakte einsehen?
In der Sache begehrte die Antragstellering als Aussonderungsberechtigte Einsicht in das Insolvenzgutachten und den Verwalterbericht. Sie hat hierzu vorgetragen, dass ihr ein Aussonderungsrecht an massefreien Gegenständen zustehe. Nach ihren Informationen seien diese Gegenstände vom Insolvenzverwalter verwertet worden. Von der Verwertung und dem vom Insolvenzverwalter erzielten Erlöses hänge ihr weiteres Vorgehen ab. Nach mehrfacher Weigerung des Insolvenzverwalters, der das Eigentum der Antragstellerin an den betreffenden Gegenständen bestritt, beantragte die Antragstellerin beim Insolvenzgericht Akteneinsicht gemäß § 4 InsO i. V. m. § 299 Abs. 2 ZPO, die abgelehnt wurde. Dies hat die Antragstellerin vor dem BayObLG angegriffen.
Aussonderungsberechtigter: Partei oder Dritter nach § 299 ZPO?
Das BayObLG hat entschieden, dass ein Akteneinsicht begehrender Antragsteller, der im Insolvenzverfahren ein Aussonderungsrecht geltend macht, nicht Partei im Sinne des § 299 Abs. 1 ZPO, sondern Dritter im Sinne des § 299 Abs. 2 ZPO ist. Damit hat sich das Gericht gegen die überwiegende Meinung in der Literatur gestellt, nach der der Aussonderungsberechtigte Partei im Sinne des § 299 Abs. 1 ZPO ist (vgl. Braun/Baumert, 10. Aufl. 2024, InsO § 4 Rn. 44; MüKoInsO/Ganter/Bruns, 4. Aufl. 2019, InsO § 4 Rn. 61; Römermann/Becker, 49 EL Januar 2024, InsO § 4 Rn. 24; Rein NJW-Spezial 2011, 661).
Wichtige Konsequenzen: Unterschiedliche Wege der Akteneinsicht in die Insolvenzakte
Diese restriktive Entscheidung wird in der Praxis Bedeutung erlangen. Zum einen, weil es noch keine obergerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage gibt. Zum anderen, weil ein entsprechendes Akteneinsichtsersuchen unterschiedliche Anträge enthält. Soweit nicht Spezialvorschriften wie § 66 Abs. 2, § 150 Satz 2, §§ 154, 175 Abs. 1, § 188 Satz 2, § 194 Abs. 3 Satz 1 InsO oder § 234 InsO zur Anwendung kommen, ist der Antrag nach § 299 Abs. 1 ZPO auf eine richterliche Entscheidung gerichtet, die vor den ordentlichen Gerichten überprüft werden kann. Demgegenüber ist der Antrag nach § 299 Abs. 2 ZPO auf den Erlass eines Justizverwaltungsaktes durch den Gerichtspräsidenten gerichtet, gegen den ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung beim OLG bzw. BayObLG gestellt werden kann.
Warum Aussonderungsberechtigte keine Verfahrensbeteiligten sind
Das BayObLG begründete seine wegweisende Entscheidung mit dem Hinweis auf die Massegläubiger. Diese seien auch keine Verfahrensbeteiligten, da sie ihre Ansprüche außerhalb des Insolvenzverfahrens geltend machen müssten und außerhalb des Insolvenzverfahrens zu befriedigen seien (vgl. BayObLG, Beschl. v. 03.12.2019 – 1 VA 70/19). Aus demselben Grund sei der Aussonderungsberechtigte keine Partei. Sowohl für den Massegläubiger im Sinne des § 53 InsO als auch für den Aussonderungsberechtigten im Sinne des § 47 InsO ordne die Insolvenzordnung an, dass ihre Befriedigung nicht im Rahmen des Insolvenzverfahrens stattfinde. Damit stünde ihnen der komfortable Weg über § 299 Abs. 1 ZPO nicht offen, nach dem Verfahrensbeteiligte ohne weitere Voraussetzungen ein Recht auf Akteneinsicht haben.
Wann ein rechtliches Interesse an Akteneinsicht besteht
Allerdings hat das BayObLG seine Entscheidung eingeschränkt. Zunächst muss das Aussonderungsrecht glaubhaft gemacht werden. Die bloße Behauptung, privilegiert im Sinne des § 47 InsO zu sein, reicht nicht aus. Darüber hinaus muss der Aussonderungsberechtigte darlegen, dass er entschuldbar in Unkenntnis darüber ist, wie es um das Aussonderungsgut steht und sich die notwendigen Kenntnisse nicht auf andere Weise verschaffen kann, die Akteneinsicht also ultima ratio ist. Überdies muss der Aussonderungsberechtigte darlegen, dass der Insolvenzverwalter die Auskunft unschwer erteilen kann.
All dies hat das BayObLG im vorliegenden Fall als gegeben angesehen und deshalb den Antrag der Antragstellerin auf gerichtliche Entscheidung für zulässig und begründet erachtet.
Neue Fragen nach der Entscheidung des BayObLG
Folgt man dem BayObLG, dass der Aussonderungsberechtigte kein Verfahrensbeteiligter ist, stellt sich die Frage, ob dies nur für § 299 Abs. 1 ZPO gilt oder auch im Kontext anderer Normen der Insolvenzordnung, die vom (Verfahrens-)Beteiligten sprechen, wie etwa § 150 InsO. Dies ist bislang ebenso ungeklärt, wie beispielsweise die Frage, ob das Akteneinsichtsrecht eines Gläubigers nach § 299 Abs. 1 InsO voraussetzt, dass seine Forderung bereits nach § 174 InsO zur Tabelle angemeldet worden ist.
Darüber hinaus ist umstritten, ob auch der Gläubiger einer vom Insolvenzverwalter bestrittenen Forderung ein solches Akteneinsichtsrecht hat; ganz zu schweigen von den Fällen, in denen ein eröffnetes Insolvenzverfahren nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit gemäß § 211 InsO, wegen Wegfalls des Eröffnungsgrundes nach § 212 InsO oder mit Zustimmung der Gläubiger gemäß § 213 InsO eingestellt wird. Sind Verfahrensbeteiligte, die vor der Einstellung des Insolvenzverfahrens ein Recht auf Akteneinsicht hatten, nach Beendigung als Partei im Sinne des § 299 Abs. 1 InsO anzusehen?
Offensichtlich ist im Zusammenhang mit der Einsicht in die Insolvenzakte noch vieles ungelöst oder diskussionswürdig. In einer dieser Fragen hat das BayObLG nun Klarheit geschaffen. Der Aussonderungsberechtigte, der Einsicht in die Insolvenzakte begehrt, muss künftig damit rechnen, dass allein sein bloßer Hinweis auf die herrschende Meinung in der Literatur zur Begründung nicht mehr ausreicht.
Spannungsfeld zwischen Grundrechten und Einsichtsrecht in die Insolvenzakte
Für die weiteren Problemfelder bleibt die künftige Rechtsprechung abzuwarten. Auch sie wird den verfassungsrechtlichen Dimensionen des Akteneinsichtsrechts gerecht werden müssen. Diese bewegt sich im Spannungsfeld zwischen dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und dem Recht auf rechtliches Gehör nach Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG einerseits und dem Recht des Schuldners auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 GG andererseits.
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