Der neue Überschuldungsbegriff – ein Vorteil für potenzielle Insolvenzschuldner?

Ist ein Unternehmen überschuldet und weist es keine positive Fortführungsprognose auf, muss es seit der gesetzlichen Neuregelung des § 19 Abs. 2 InsO vom 01.01.2021 im Zusammenhang mit den Coronagesetzen innerhalb von sechs Wochen einen Insolvenzantrag stellen. Bislang betrug die Frist zur Insolvenzanmeldung drei Wochen. Die vermeintliche Erleichterung ist allerdings ein Trugschluss, wie nachfolgend aufgezeigt wird.

Überschuldung bedeutet grundsätzlich, dass die Verbindlichkeiten − nach Auflösung stiller Reserven − das Vermögen übersteigen.

Generell gilt: Ist das Unternehmen innerhalb der nächsten 12 Monate drohend zahlungsunfähig, müssen die Vermögenswerte des Unternehmens zu Zerschlagungsgesichtspunkten bewertet werden. Ist es dann überschuldet, ist es auch antragspflichtig. Sollte es dann nicht überschuldet sein, besteht keine Antragspflicht. Wird es erst ab dem 13ten Monat zahlungsunfähig, ist es nicht antragspflichtig. Auf eine Bewertung der Vermögenswerte unter Zerschlagungsgesichtspunkten kommt es hierbei noch nicht an.

Maßgeblich sind immer die folgenden Monate ab dem Tag der Feststellung der drohenden Zahlungsunfähigkeit.

Die Neufassung des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO hat folgenden Wortlaut:

„Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen in den nächsten 12 Monaten überwiegend wahrscheinlich.“

Das kann auch mit einem Vergleich nach StaRUG (Unternehmensstabilisierungs- und Restrukturierungsgesetz) oder einem IDW S6 Gutachten belegt werden, wenn dessen Annahme und Bestätigung nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist. In diesem Fall liegt keine Überschuldung i. S. d. § 19 Abs. 2 InsO vor, sodass z. B. der Zugang zum Restrukturierungsrahmen des StaRUG gegeben ist.

Wird das Unternehmen voraussichtlich nach 12 Monaten, aber vor Ablauf von 24 Monaten zahlungsunfähig, kann es wegen drohender Zahlungsunfähigkeit einen Insolvenzantrag stellen, muss dies aber nicht.

Tritt die Zahlungsunfähigkeit voraussichtlich noch später ein, entfällt die Berechtigung zur Insolvenzantragstellung. Es darf dann auch kein Antrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit gestellt werden.

Damit ist nunmehr auch klargestellt, in welchem Zeitraum ein Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit gestellt werden kann. Bislang war dies völlig offen. Theoretisch wäre ein solcher Antrag auch möglich gewesen, wenn die Zahlungsunfähigkeit erst in mehreren Jahren eintreten würde.

Ist das Unternehmen in den nächsten 12 Monaten voraussichtlich zahlungsunfähig und kann diese Zahlungsunfähigkeit auch nicht z. B. mithilfe eines StaRUG-Verfahrens oder mit Liquiditätshilfen von außen innerhalb der nächsten 12 Monate beseitigt werden, muss in eine Überschuldungsprüfung eingetreten werden. Bei dieser Überschuldungsprüfung sind die Verbindlichkeiten, die zum Stichtag der Überschuldungsprüfung bereits bestehen und Rückstellungen für Verbindlichkeiten zu passivieren, die bei insolvenzfreier Liquidation voraussichtlich entstehen würden (ausführlich Frystatzki, ZInsO 2020, 176ff.).

Demzufolge sind auch Abwicklungskosten zu passivieren, die bei insolvenzfreier Liquidation voraussichtlich entstehen würden. Dazu gehören insbesondere:

  • die auslaufenden Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen, z.B. aus Arbeits- und Mietverhältnissen
  • Verwertungskosten
  • Rechnungslegungs- und Steuerberatungskosten
  • Notar- und Handelsregistergebühren

Achtung: Zu den Auslaufverbindlichkeiten aus Arbeitsverhältnissen zählen auch künftige Sozialplanverbindlichkeiten, wenn das außergerichtliche Liquidationskonzept sozialplanpflichtige Betriebsänderungen vorsieht. Sozialplanbegrenzungen des § 123 InsO finden dabei keine Anwendung, sondern es ist ein Sozialplan zugrunde zu legen, wie wenn er ohne Insolvenz abgeschlossen würde (vgl. Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, zu § 19 InsO, Randnummer 60).

Die Passivierung dieser Verbindlichkeiten macht die Überschuldung bei Bewertung der Aktiva unter Liquidationsgesichtspunkten und damit die Insolvenzantragspflicht deutlich wahrscheinlicher.

Nach dem § 4 COVInsAG gibt es für die von Corona betroffenen Unternehmen eine Privilegierung: Abweichend von § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO gilt ein verkürzter Prognosezeitraum von vier Monaten. Dazu müssen folgende Voraussetzungen vorliegen:

  • Die Überschuldung muss auf die Corona-Pandemie zurückzuführen sein. Dies wird vermutet, wenn das Unternehmen am 31.12.2019 nicht zahlungsunfähig war und im letzten Geschäftsjahr vor dem 01.01.2020 ein positives Ergebnis erwirtschaftet hat.
  • Der Umsatz im Jahr 2020 muss im Vergleich zum Vorjahr um mindestens 30 Prozent eingebrochen sein.

Liegen diese Voraussetzungen vor, ist ein Insolvenzantrag wegen Überschuldung nur dann zu stellen, wenn innerhalb der nächsten vier  Monate Zahlungsunfähigkeit eintritt. Tritt die Zahlungsunfähigkeit ab dem 5ten bis zum 24ten Monat ein, kann, aber es muss kein Antrag gestellt werden.


Es kommt auch hier immer auf eine rollierende Betrachtungsweise an.

Fazit

Mit der Gesetzänderung ist eine deutliche Verschärfung der Gesetzeslage eingetreten.

Unternehmen, die sich in der Krise befinden, müssen ständig nach vorne blicken und grundsätzlich monatlich die nächsten 12 Monate betrachten. Tritt innerhalb dieses Zeitraumes Überschuldung nach den vorgenannten Kriterien ein, ist zwingend ein Insolvenzantrag zu stellen. Erfolgt dies nicht und wird dann zu einem späteren Zeitpunkt, z. B. wegen Zahlungsunfähigkeit, ein Insolvenzantrag gestellt, wird sich der Insolvenzverwalter die Vergangenheit ansehen. Kommt er zu dem Schluss, dass der Insolvenzantrag zu spät gestellt worden ist, wird er den Geschäftsleiter auf Rückzahlung aller Beträge in Anspruch nehmen, die der Geschäftsleiter seit dem Zeitpunkt des erstmaligen Eintritts der Insolvenzantragspflicht an Dritte geleistet hat. Es kommt nicht darauf an, ob er dafür eine Gegenleistung erhalten hat.

Betroffen sind auch Zahlungen von Löhnen und Gehältern, Zahlungen an Lieferanten, Dienstleister, Krankenkassen und das Finanzamt. Das kann zur persönlichen Existenzvernichtung führen.

In der Unternehmenskrise sollte deshalb immer ein kompetenter und in der Materie erfahrener Berater zu Rate gezogen werden. Das persönliche Haftungsrisiko des Geschäftsleiters sollte unter keinen Umständen unterschätzt werden.

Im Zweifel sollte ein StaRUG-Verfahren und − wenn dies nicht ausreicht − ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung, das dem StaRUG-Verfahren nach wie vor deutlich überlegen ist, eingeleitet werden.

Solange noch keine Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist, sondern lediglich drohende Zahlungsunfähigkeit vorliegt, ist es möglich, in ein Schutzschirmverfahren einzutreten. Damit verbunden ist der nicht zu vernachlässigende Vorteil, dass das insolvente Unternehmen den vorläufigen Sachwalter selbst aussuchen darf.

Über den Autor

Geschäftsführer, Partner, Rechtsanwalt Robert Buchalik

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