Neues BGH-Urteil zur Insolvenzanfechtung: Paukenschlag oder Sturm im Wasserglas?

Mit dem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 06.05.2021 (Az. IX ZR 72/20) hat der für das Insolvenzrecht zuständige IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs seine Rechtsprechung zur Insolvenzanfechtung an zwei entscheidenden Stellen geändert: Diese betreffen den sogenannten Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners und die diesbezügliche Kenntnis des Gläubigers. Endet damit ein für Gläubiger seit Jahrzehnten bestehendes Ärgernis und große Ungerechtigkeit oder ist das Urteil nur ein Sturm im Wasserglas?


1.
Gläubigerbenachteiligungsvorsatz

Ein Schuldner, der um seine Zahlungsunfähigkeit weiß, handelt nicht mehr „automatisch“ mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz, wenn er an einen Gläubiger leistet und dabei in Kauf nimmt, dass andere Gläubiger ihr Geld nicht erhalten. Diesen jahrzehntelangen Grundsatz hat der BGH jetzt eingeschränkt (Rn. 36.):

„Der Schluss von der erkannten Zahlungsunfähigkeit auf den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz und die Kenntnis von diesem beruht auf dem Gedanken, der erkanntermaßen zahlungsunfähige Schuldner wisse, dass sein Vermögen nicht ausreicht, um sämtliche Gläubiger zu befriedigen (vgl. etwa BGH, Urteil vom 10. Juli 2014 – IX ZR 280/13, WM 2014, 1868 Rn. 17; vom 12. Oktober 2017 – IX ZR 50/15, WM 2017, 2322 Rn. 9). Danach ist der Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorsatzes die Liquiditätslage im Moment der Rechtshandlung. Das ist keine hinreichend sichere Beurteilungsgrundlage. Das Wissen des Schuldners um seine gegenwärtige Zahlungsunfähigkeit ist nur ein Aspekt. Der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz kann nicht allein daraus abgeleitet werden, dass der Schuldner im Zeitpunkt der Rechtshandlung nicht in der Lage ist, sämtliche Gläubiger zu befriedigen. Von entscheidender Bedeutung für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz ist vielmehr, dass der Schuldner weiß oder jedenfalls billigend in Kauf nimmt, dass er seine (übrigen) Gläubiger auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vollständig befriedigen können wird. Dies kann aus der im Moment der Rechtshandlung gegebenen Liquiditätslage nicht in jedem Fall mit hinreichender Gewissheit abgeleitet werden. Die gegenwärtige Zahlungsunfähigkeit allein spricht für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz im hier verwendeten Sinne, wenn sie ein Ausmaß angenommen hat, das eine vollständige Befriedigung der übrigen Gläubiger auch in Zukunft nicht erwarten lässt, etwa deshalb, weil ein Insolvenzverfahren unausweichlich erscheint. Das mag in einer überwiegenden Zahl der nach Maßgabe des § 133 Abs. 1 InsO zu beurteilenden Fälle anzunehmen sein. Es bleibt aber eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von Fallgestaltungen, in denen die Krise noch nicht so weit fortgeschritten ist oder aus anderen Gründen berechtigte Hoffnung auf Besserung besteht. Hier genügt der Blick auf die momentane Liquiditätslage nicht für eine im Sinne des § 286 ZPO sichere Überzeugung. Deshalb hält es der Senat für erforderlich, den Bezugspunkt für die Beurteilung des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes zu erweitern. Maßgeblich ist, ob der Schuldner wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vollständig befriedigen zu können. Entsprechendes gilt für die Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners.

Der letzte Satz bildet damit den neuen Prüfungsmaßstab, der durch die Landgerichte und Oberlandesgericht wie folgt anzulegen ist:

„Ob der Schuldner wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vollständig befriedigen zu können, hat der Tatrichter gemäß § 286 ZPO unter Würdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu prüfen.“

Der BGH (aaO Rn. 46) stellt klar, dass der Zeitpunkt der angefochtenen Zahlung maßgeblich ist.

„Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die im Moment der angefochtenen Rechtshandlung bestehende Deckungslücke zwischen dem liquiden Vermögen des Schuldners und seinen Verbindlichkeiten. Hatte die Deckungslücke ein Ausmaß erreicht, das selbst bei optimistischer Einschätzung der zukünftigen Entwicklung in absehbarer Zeit keine vollständige Befriedigung der bereits vorhandenen und der absehbar hinzutretenden Gläubiger (vgl. BGH, Urteil vom 12. Oktober 2017 – IX ZR 50/15, WM 2017, 2322 Rn. 19) erwarten ließ, musste dem Schuldner klar sein, dass er nicht einzelne Gläubiger befriedigen konnte, ohne andere zu benachteiligen. Befriedigt er in dieser Lage einzelne Gläubiger, handelt er deshalb mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz.“

Daraus folgt für die Anfechtungspraxis im Ergebnis nicht viel. Es wird lediglich ein längerer Prognosezeitraum und mehr Sachvortrag erforderlich sein. Mit den bisherigen Beweisanzeichen gelangt man ohne weiteres zu der notwendigen Feststellung. Insoweit gilt: Nur ein Sturm im Wasserglas!

2. Kenntnis des Gläubigers

Ein Gläubiger hat nur dann Kenntnis von einem Gläubigerbenachteiligungsvorsatz, wenn er Kenntnis von der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit des Schuldners besitzt. Die Kenntnis von nur drohender Zahlungsunfähigkeit reicht nicht mehr aus. Dies soll sowohl in Altfällen als auch unter Geltung der zum 07.04.2017 geänderten Anfechtungsvorschriften gelten. Der BGH gibt die bisherige entgegenstehende Rechtsprechung ausdrücklich auf (BGH aaO Rn. 39). Für die in der Praxis wichtigen Anfechtungsfälle des Leistungsaustauschs gilt dies seit der Änderung der Anfechtungsvorschriften aber ohnehin. Ein Gewinn für die Gläubiger liegt in dieser Rechtsprechung also nicht.

3. Und was ist mit den Beweisanzeichen?

Die seit Jahrzehnten in unsäglicher Weise ausufernde und von Verfahrensbeteiligten schlicht als ungerecht empfundene Insolvenzanfechtung nach § 133 InsO, also dem Leistungsaustausch in einem Zeitraum von mehr als drei Monaten vor dem Insolvenzantrag, beruht vor allem auf der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den sog. Beweisanzeichen. In den viele Jahre nach den angefochtenen Zahlungen geführten Anfechtungsprozessen kann meist kaum mehr einer sagen, wer wann was wusste. Wusste der Geschäftsführer einer GmbH um die eigene Zahlungsunfähigkeit, und erkannte der Geschäftsführer einer Lieferantin diese ebenfalls als die GmbH die Rechnung für gelieferte Ware bezahlte? Nein, sagen die Geschäftsführer. Ja, zu oft die Gerichte und stützen sich hierbei auf die vom BGH entwickelten Beweisanzeichen, die sie eigentlich nicht schematisch anwenden sollen, aber leider doch so verfahren.

Hat die neue BGH-Entscheidung die Beweisanzeichen also modifiziert oder gar abgeschafft?

Leider nein: „Für die Feststellung der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit gelten die hergebrachten Grundsätze“ (BGH aaO Rn. 41). Oder anders ausgedrückt: Liebe Gläubiger wir lassen Euch leider weiter im Regen stehen.

Der BGH nennt die Beweisanzeichen noch einmal in aller Klarheit (BGH aaO Rn. 41):

„Eine besonders aussagekräftige Grundlage für diese Überzeugung ist die eigene Erklärung des Schuldners. Erklärt der Schuldner, eine fällige und nicht unbeträchtliche Verbindlichkeit binnen drei Wochen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juni 2016 – IX ZR 174/15, WM 2016, 1238 Rn. 27) nicht – und zwar auch nicht nur ratenweise – begleichen zu können, wird in aller Regel von einer Zahlungseinstellung des Schuldners im Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung auszugehen sein. Dies gilt erst recht, wenn der Schuldner darüber hinaus ausdrücklich erklärt, zahlungsunfähig zu sein.“

Beweismittel wie E-Mails, Faxe, Zahlungserinnerungen, Mahnungen, Inkasso und Anwaltsschreiben werden Gläubigern weiter zum Verhängnis (BGH aaO Rn. 41):

Fehlt es an einer (ausdrücklichen) Erklärung des Schuldners, müssen die für eine Zahlungseinstellung sprechenden Umstände ein der Erklärung entsprechendes Gewicht erreichen. Zahlungsverzögerungen allein, auch wenn sie wiederholt auftreten, reichen dafür häufig nicht. Es müssen dann Umstände hinzutreten, die mit hinreichender Gewissheit dafürsprechen, dass die Zahlungsverzögerung auf der fehlenden Liquidität des Schuldners beruht.“

Ohne Erklärung verbleibt also Interpretationsspielraum. Zahlungsverzögerungen können, müssen aber nicht ausreichen. Damit ist keinem Gläubiger geholfen. Die Gerichte werden dies nutzen, um weiter auf Vergleichsabschlüsse zu drängen, weil man die Sache ja so oder eben genau andersherum sehen und entscheiden könne. Aber was sind die zusätzlichen Umstände, die zu Zahlungsverzögerungen hinzutreten sollen? Der BGH (aaO Rn. 42) führt hierzu aus:

„Die zusätzlich erforderlichen Umstände können darin zu sehen sein, dass der Schuldner Forderungen solcher Gläubiger nicht begleicht, auf deren (weitere) Leistungserbringung er zur Aufrechterhaltung seines Geschäftsbetriebs angewiesen ist (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juni 2016 – IX ZR 174/15, WM 2016, 1238 Rn. 24). Ferner kann der Mahn- und/oder Vollstreckungsdruck des Gläubigers der Zahlungsverzögerung ein größeres Gewicht verleihen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2016 – IX ZR 32/14, NZI 2016, 222 Rn. 15). Ein schematisches Vorgehen verbietet sich auch hier. Maßgebend ist, dass die zusätzlichen Umstände im konkreten Einzelfall ein Gewicht erreichen, das der Erklärung des Schuldners entspricht, aus Mangel an liquiden Mitteln nicht zahlen zu können.

Also auch hier gilt leider weiter: Alles kann nichts muss.

4. Fazit

Das Urteil erweist sich bei näherer Betrachtung als Sturm im Wasserglas. Die Gläubiger werden von der Rechtsprechung des BGH weiter allein gelassen und der im Rahmen der Reform der Insolvenzanfechtung im Jahr 2017 klar geäußerte Wille des Gesetzgebers, die ausufernde Insolvenzanfechtung zurückzudrängen, wird missachtet. Ohne weiteres können und werden Insolvenzverwalter von Lieferanten, Dienstleistern, Vermietern und vielen mehr Geld zurückverlangen, welches diese lange Zeit vor der Insolvenz ihres Vertragspartners für eine ordnungsgemäße Leistung erhalten haben. Gleiches gilt nahezu selbstverständlich für die Finanzverwaltung, Krankenkassen und Berufsgenossenschaften.

 

Über den Autor

Partner, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht Dr. Olaf Hiebert

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