Die zeitliche Dimension des Kleinbeteiligtenprivilegs und Voraussetzungen einer „koordinierten Finanzierung“

Aktuelles Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Darlehensanfechtung

Ein neues BGH-Urteil klärt insolvenzrechtliche Fragestellungen im Zusammenhang mit der Anfechtung von Darlehensrückzahlungen oder ähnlichen Finanzierungsleistungen. Hier sollten die Voraussetzungen des Kleinbeteiligtenprivilegs gemäß § 39 Abs. 5 InsO stets sorgfältig geprüft werden. Das vorliegende Urteil schafft mehr Rechtssicherheit für finanzierende Minderheitsgesellschafter und klare Leitlinien für Rechtsberater und Unternehmensfinanzierer.

Leitsatz:

a) Für das Kleinbeteiligtenprivileg im Fall der Anfechtung der Rückzahlung eines Darlehens oder einer darlehensgleichen Finanzierungsleistung des Gesellschafters genügt es, dass seine Voraussetzungen in dem Zeitraum von einem Jahr vor Beantragung des Insolvenzverfahrens vorliegen. Auf die Verhältnisse in der Zeit davor, insbesondere zum Zeitpunkt der Finanzierungsentscheidung des Gesellschafters, kommt es grundsätzlich nicht an.

b) Für die Annahme einer der Anwendbarkeit des Kleinbeteiligtenprivilegs entgegenstehenden koordinierten Finanzierung genügt es nicht, dass der geringfügig beteiligte Gesellschafter einer darlehensgleichen Finanzierungsleistung an den Schuldner in der Gesellschafterversammlung nur zustimmt, ohne damit zugleich eine über seine Rolle hinausgehende unternehmerische Verantwortung zu übernehmen.

Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20. April 2023 – IX ZR 44/22 – OLG Köln, LG Köln

Normen: Insolvenzordnung (InsO) § 39 Abs. 5, § 135 Abs. 1 Nr. 2

1. Einführung und Hintergrund

Der Kläger ist Verwalter in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen einer GmbH (Eröffnung am 01. Juli 2019). Der Beklagte ist Gesellschafter der Schuldnerin. Sein Geschäftsanteil beträgt 23.000 EUR. Die übrigen 90 Prozent des Stammkapitals werden von der Mehrheitsgesellschafterin gehalten. In der Zeit vom 3. November 2014 bis zum 29. Dezember 2017 war der Beklagte auch Geschäftsführer der Schuldnerin.

Im Jahr 2017 beschloss die Gesellschafterversammlung den Überschuss aus dem Jahr 2016 sowie die Gewinne aus den Vorjahren von insgesamt 685.000 EUR auf neue Rechnung vorzutragen. In Ausführung eines entsprechenden Gesellschafterbeschlusses vom 8. Juni 2018 zahlte die Schuldnerin am 29. Juni 2018 an den Beklagten 68.500 EUR. Der Beklagte stimmte in beiden Gesellschafterversammlungen mit der Mehrheitsgesellschafterin.

2. Der Streit im Detail

Der Kläger verlangt im Wege der Insolvenzanfechtung von dem Beklagten die Erstattung des Betrags in Höhe von 68.500 EUR. Das Landgericht gab der Klage statt. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der vom Senat zugelassenen Revision, mit der er die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils erstrebt.

Das Berufungsgericht hatte festgestellt, dass eine Anfechtung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO gegenüber dem Beklagten am Kleinbeteiligtenprivileg gemäß § 39 Abs. 5 InsO scheitern würde. Es genüge, dass die Voraussetzungen des Privilegs innerhalb eines Jahres vor Insolvenzantragstellung vorlägen. Auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Gewinnverwendungsbeschlusses der Gesellschafterversammlung komme es dagegen nicht an. Der Beklagte erfülle die Voraussetzungen des Kleinbeteiligtenprivilegs, da er seine Tätigkeit als Geschäftsführer der Schuldnerin bereits vor Beginn dieses Zeitraums beendet habe.

3. Entscheidung des Bundesgerichtshofs und seine Begründung

Der Bundesgerichtshof hat die Entscheidung des Berufungsgerichts bestätigt. Gemäß § 39 Abs. 5 InsO sei eine Rückzahlung an den nicht geschäftsführenden Gesellschafter einer Gesellschaft, der mit zehn Prozent oder weniger am Haftkapital beteiligt ist, nicht anfechtbar. Diese Privilegierung gelte auch für Beteiligungen von genau zehn Prozent.

Entscheidend für die Anwendung des Kleinbeteiligtenprivilegs sei, dass der Gesellschafter vor Beginn des in § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO bestimmten Zeitraums seine Geschäftsführertätigkeit niedergelegt habe. Es komme dagegen nicht darauf an, ob die Voraussetzungen bereits zum Zeitpunkt der Darlehensgewährung vorgelegen hätten. Die Reduzierung der Beteiligung unter die Schwelle von zehn Prozent oder die Aufgabe der Geschäftsführerfunktion vor Beginn des in § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO bestimmten Zeitraums würden die Anwendbarkeit des Kleinbeteiligtenprivilegs nicht beenden.

Die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Zustimmung eines Minderheitsgesellschafters zu einem Gewinnverwendungsbeschluss der Gesellschafterversammlung, der den Vortrag des Jahresüberschusses auf neue Rechnung vorsieht, dazu führt, dass der Anspruch aus einem später gefassten Gewinnausschüttungsbeschluss als eine wirtschaftlich einem Darlehen gleichstehende Forderung anzusehen ist, kann daher dahinstehen.

Das Gericht stellte weiter fest, dass im vorliegenden Fall keine koordinierte Finanzierung zwischen dem Beklagten und der Mehrheitsgesellschafterin vorgelegen habe. Die bloße Zustimmung des Beklagten zum Gewinnverwendungsbeschluss reiche jedenfalls nicht aus, um eine solche Annahme zu begründen. Der Beklagte sei mit diesem Verhalten nicht über seine Rolle als Kleinbeteiligter hinausgegangen. Daher sei das Kleinbeteiligtenprivileg gemäß § 39 Abs. 5 InsO anwendbar.

Auch die fortbestehende gesellschaftsrechtliche Treuepflicht des Beklagten als Gesellschafter der Schuldnerin stehe der Anwendbarkeit des Kleinbeteiligtenprivilegs nicht entgegen. Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht umfasse zwar die Pflicht zur Förderung des Gesellschaftszwecks und der Gesellschaftsinteressen, nicht aber den Schutz der künftigen Insolvenzmasse oder der Gläubiger der Gesellschaft.

4. Relevanz und Bedeutung für die Praxis

Das Urteil verdeutlicht, dass für die Anwendbarkeit des Kleinbeteiligtenprivilegs gemäß § 39 Abs. 5 InsO ausschließlich der Zeitraum von einem Jahr vor Beantragung des Insolvenzverfahrens relevant ist. Auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Finanzierungsentscheidung des Gesellschafters bzw. der Darlehensausreichung kommt es nicht an. Solange ein Gesellschafter mit zehn Prozent oder weniger am Haftkapital beteiligt ist und vor Beginn dieses Zeitraums seine Geschäftsführertätigkeit niedergelegt hat, ist das Kleinbeteiligtenprivileg anwendbar.

Dem steht auch nicht der Gesichtspunkt einer die Anwendbarkeit des Kleinbeteiligtenprivilegs grundsätzlich ausschließenden sog. koordinierten Finanzierung entgegen. Das bloße Einvernehmen der Gesellschafter bei der Beschlussfassung in der Gesellschafterversammlung, die Zustimmung des Beklagten zum Gewinnvortrag, reicht für die Annahme der Übernahme einer über den nominellen Gesellschaftsanteil hinausgehenden, überschießenden unternehmerischen Verantwortung des Kleinbeteiligten nicht aus.

5. Schlussfolgerung und Ausblick für Rechtsanwender

Bei insolvenzrechtlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Anfechtung von Darlehensrückzahlungen oder ähnlichen Finanzierungsleistungen sollten die Voraussetzungen des Kleinbeteiligtenprivilegs gemäß § 39 Abs. 5 InsO sorgfältig geprüft werden.

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichtshofs gibt dem Rechtsanwender nunmehr eine klare Richtschnur für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen an die Hand. Die Rechtsprechung öffnet damit den Korridor für strategische Überlegungen von Unternehmensfinanzierern und ihren Beratern erheblich; dieser sollte in Zukunft von den Beteiligten im Wirtschafts- und Rechtsverkehr auch genutzt werden!

Mit der eindeutigen Entscheidung für die Erheblichkeit des Zeitraums von einem Jahr vor Beantragung des Insolvenzverfahrens und nicht des Zeitpunkts der Finanzierungsentscheidung des Gesellschafters ist zugleich ein hohes Maß an Rechtssicherheit, aber auch eine Erleichterung für die ihre Gesellschaft finanzierende Minderheitsgesellschafter erreicht worden.

Autor: Dr. Alexander Verhoeven

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