Besonderer Schutz des Mindestlohns? Nicht im Rahmen der Insolvenzanfechtung!

I. Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Jüngst entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG), dass die Insolvenzanfechtung von Arbeitsentgelt auch den Teil umfasst, der auf den gesetzlichen Mindestlohn entfällt (Urteil vom 25.05.2022, Az.: 6 AZR 497/21, nachzulesen in NJW 2022, 2561).

Die Idee, die Anfechtung auf die Höhe des Mindestlohns zu begrenzen, ist eine gute. Ihre Ablehnung durch das BAG ist dennoch überzeugend. Zudem weist die Entscheidung auf einen praxisrelevanten Fallstrick hin. In folgendem Beitrag möchte ich diese Punkte näher beleuchten.

II. Worum ging es in dem konkreten Fall vor dem Bundesarbeitsgericht?

Der Insolvenzverwalter verlangte von der Beklagten, einer ehemaligen Arbeitnehmerin des Schuldners, die Erstattung von zwei Zahlungen im Dreimonatszeitraum vor dem Insolvenzantrag gemäß §§ 129 Abs. 1, 
131 Abs. 1 Nr. 1 und 2, 143 Abs. 1 InsO. Sie erhielt in zwei Überweisungen das für die Monate August und September 2016 geschuldete Nettoarbeitsentgelt über ein Konto der Mutter des Schuldners. Aus der Überweisung ergab sich zum einen die Mutter als Absender der Zahlung, zum anderen der Verwendungszweck „Lohn August“ und „Lohn September“. Der Schuldner hatte zuvor regelmäßig Bareinzahlungen auf das Konto seiner Mutter vorgenommen sowie Umbuchungen und Überweisungen. Zwei bzw. einen Monat nach der Überweisung des Nettoarbeitsentgelts an die Beklagte stellte der Schuldner am 12.10.2016 einen Insolvenzantrag über sein Vermögen. Das Gericht eröffnete das Verfahren am 01.12.2016. Im Zeitpunkt der Überweisungen an die Beklagte war der Schuldner bereits zahlungsunfähig.

Das BAG bestätigte in der Revision zunächst die Ansicht des Landesarbeitsgerichts (LAG), dass es sich bei den Zahlungen von dem Konto eines Dritten, hier der Mutter, um eine inkongruente Deckung i. S. d. § 131 InsO handle, da der Arbeitsvertrag zwischen der Beklagten und dem Schuldner keine entsprechende Vereinbarung vorsah. Mangels einer entsprechenden Vereinbarung müsse auf die gesetzliche Regelung zurückgegriffen werden, wonach im Zweifel die Entgeltforderung durch den Arbeitgeber selbst erfüllt wird (vgl. 611a Abs. 2 BGB).

III. Wesentliche Gründe für die Anfechtbarkeit des Mindestlohns

Hinsichtlich der Höhe des Rückgewähranspruchs ist die Anfechtung nach dem Urteil des BAG auch bzgl. des auf den gesetzlichen Mindestlohn entfallenden Anteils des Entgeltanspruchs möglich. Der Gesetzgeber hat den Mindestlohn demnach nicht vor Anfechtbarkeit geschützt. Das BAG begründet dies im Wesentlichen damit, dass der Anspruch auf Mindestlohn mit der vorbehaltslosen Zahlung an den Arbeitnehmer im Sinne des § 362 Abs. 1 BGB bereits erfüllt sei. Hätte der Gesetzgeber eine Mindestlohngrenze beabsichtigt, hätte er dies nach Ansicht des BAG im Rahmen der Änderungen des Anfechtungsrechts durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz vom 29.03.2017 entsprechend berücksichtigt. Die Anfechtbarkeit widerspreche auch nicht dem Sinn und Zweck des Mindestlohns, der nach der Gesetzesbegründung Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor einer Beschäftigung zu unangemessenen Arbeitsentgelten schützen wollte. Das Mindestlohngesetz solle daher nicht umfassend die gesamte Existenz des Arbeitnehmers auf Dauer absichern, sondern nur die Mindesthöhe des Entgelts bestimmen.

IV. Keine verfassungskonforme Einschränkung des Anfechtungsrechts notwendig

Das BAG entschied weiterhin, dass das Anfechtungsrecht in seiner Fassung bis zum 04.04.2017 im Hinblick auf den Schutz eines menschenwürdigen Existenzminimums keiner verfassungskonformen Einschränkung bedürfe. Nach Ansicht des BAG wird die verfassungsrechtlich gebotene Absicherung des Existenzminimums nachgelagert im Rahmen der Zwangsvollstreckung durch das Eingreifen der Pfändungsschutzbestimmungen der ZPO und durch das Sozialrecht ausreichend gewährleistet. Eine Beschränkung des Anfechtungsanspruchs im Rahmen des Erkenntnisverfahrens folge daraus nicht (vgl. BAG, Urteil vom 25.5.2022 – 6 AZR 497/21, NJW 2022, 2561, Rn. 29 ff.). Die vorgebrachten Gründe dürften ebenso für das Anfechtungsrecht nach den Änderungen zum 04.04.2017 gelten, da insoweit keine wesentlichen Unterschiede erkennbar sind. Darauf deutet auch das Urteil des BAG am Ende der Rn. 32 hin. Dort heißt es:

V. Zuständigkeit der Arbeitsgerichte: Prozessualer Fallstrick, auf den zu achten ist

Ein Fehler, der bei der Insolvenzanfechtung von Arbeitsentgelt immer wieder auftritt – so auch in dem vorliegenden Fall – ist die korrekte Bestimmung des zuständigen Prozessgerichts bei Beantragung eines Mahnbescheids. Für die Insolvenzanfechtung von Arbeitsentgelt sind ausnahmsweise nicht die ordentlichen Gerichte zuständig, sondern die Arbeitsgerichte. Damit soll der Schutz des Arbeitnehmers, der vor den Arbeitsgerichten besondere Beachtung findet, gewährleistet werden. Die Zuweisung der Zuständigkeit zu den Arbeitsgerichten ist zurückzuführen auf einen Beschluss des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27.09.2010, GmS-OGB 1/09, (vorlegendes Gericht: BGH).

Nach erfolgtem Widerspruch des Antragsgegners ist eine Änderung des Prozessgerichts und Überweisung an das sachlich zuständige Gericht gemäß § 696 Abs. 1 ZPO nur noch mit einem übereinstimmenden Antrag der Parteien möglich. Ohne die Zustimmung des Antragsgegners wird die Mahnsache nach Einzahlung des Gerichtskostenvorschusses an das im Mahnbescheid benannte Prozessgericht überwiesen, dieses erklärt den beschrittenen Rechtsweg für unzulässig und verweist an das zuständige Arbeitsgericht.

Da die Zustellung des Mahnbescheids gerade zum Jahresende häufig den Eintritt der Verjährung hemmen soll, muss im weiteren Ablauf darauf geachtet werden, dass das Verfahren nicht zum Stillstand kommt, sondern weiter betrieben wird. Anderenfalls endet die Hemmung der Verjährung gemäß § 204 Abs. 2 Satz 1 und 3 BGB sechs Monate nach der letzten Verfahrenshandlung der Parteien, des Gerichts oder der sonst mit dem Verfahren befassten Stelle. Unter einer Verfahrenshandlung wird jede Handlung verstanden, die zur Begründung, Führung und Erledigung des Rechtsstreits dient und vom Prozessrecht in ihren Voraussetzungen und Wirkungen geregelt ist (BGH v. 28.01.2010 – VII ZR 174/08 – NJW2010, 1662). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Antragsteller innerhalb der sechsmonatigen Frist, in welcher die Verjährung gehemmt ist, den Gerichtskostenvorschuss einzahlt.

Dies wird deutlich in einem älteren Urteil des LAG Rheinland-Pfalz, vom 17.08.2016, 4 Sa 517/15, in welchem dieses die Verjährung der Ansprüche des Insolvenzverwalters aus Insolvenzanfechtung annahm. In dem zugrundeliegenden Fall hatte der Insolvenzverwalter in dem Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids das sachlich unzuständige (ordentliche) Gericht angegeben. Nach Mitteilung des Widerspruchs durch das Mahngericht und Aufforderung zur Einzahlung des Gerichtskostenvorschusses zahlte er diesen nicht ein. Stattdessen beantragte er die Verweisung an das zuständige Arbeitsgericht, ohne dass ein übereinstimmender Antrag der Gegenseite vorlag und begründete den Anspruch. Eine Verweisung war mangels eines übereinstimmenden Antrags der Gegenseite sowie aufgrund des nicht eingezahlten Kostenvorschusses nicht möglich (§ 12 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Das LAG nahm in seinem Urteil zu Gunsten des Antragsstellers/Klägers an, dass in der Einreichung der Anspruchsbegründung eine Verfahrenshandlung bzw. ein Weiterbetreiben des Verfahrens gesehen werden konnte. Daraus ergab sich eine Verlängerung der Verjährungshemmung um weitere sechs Monate. Da der Insolvenzverwalter aber auch in der Folgezeit nicht den Gerichtskostenvorschuss einzahlte, trat nach Ablauf der sechs Monate Verjährung ein.

VI. Einordnung der Entscheidung

Anhaltspunkte für Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften über die Insolvenzanfechtung bestehen nicht. Dennoch kann die Insolvenzanfechtung von Arbeitsentgelt für den Arbeitnehmer schnell zu einer existenzgefährdenden Situation führen. Viele Arbeitnehmer haben nicht die Möglichkeit, sich ein großes finanzielles Polster aufzubauen bzw. müssen regelmäßig eine Vielzahl von Verbindlichkeiten bedienen (Darlehensraten für ein Haus, Finanzierung eines Autos u. a.). Sie auf den Schutz des Existenzminimums durch die Pfändungsschutzbestimmungen zu verweisen, ist für einen Arbeitnehmer, der lediglich seine Pflichten aus dem Arbeitsvertrag erfüllt hat, besonders schwer zu verstehen. Insofern war die Idee der Verteidigung, sich auf eine Grenze der Anfechtbarkeit in Höhe des Mindestlohns zu berufen, eine gut durchdachte. Die Begründung der Entscheidung des BAG, weshalb eine solche Einordnung keine Anwendung findet, ist dennoch überzeugend.

Je nachdem, wie hoch der finanzielle Druck für den Arbeitnehmer ist, ergibt es Sinn, sich in der Folge eines Urteils über ein Verbraucherinsolvenzverfahren Gedanken zu machen. Auf diese Weise kann der Verbraucher innerhalb von drei Jahren die Restschuldbefreiung erlangen (gilt für Insolvenzanträge seit dem 01.10.2020). Diese Tatsache bietet aber auch eine gute Voraussetzung, um sich mit dem Insolvenzverwalter über einen Vergleich zu unterhalten. Der Insolvenzverwalter ist in vielen Fällen nicht an einer Privatinsolvenz des Arbeitnehmers interessiert. Denn wirtschaftlich gesehen wäre seine Forderung damit regelmäßig kaum mehr etwas wert und er müsste Jahre lang auf eine Zahlung zur Insolvenzmasse warten. Insofern ergibt es Sinn, sich Unterstützung durch einen Rechtsanwalt mit Spezialisierung im Insolvenzrecht nicht nur im Rahmen des Anfechtungsprozesses zu holen, sondern auch in dessen Nachgang im Rahmen eines möglichen Vergleichs. Hat ein Vergleich keine Aussicht auf Erfolg, unterstützt Sie Ihr Rechtsanwalt auch bei der Durchführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens – von der Stellung des Insolvenzantrags bis zur Erreichung der Restschuldbefreiung.

Autorin

Rechtsanwältin Viktoria Schabel

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