Betriebliches Eingliederungsmanagement: Wie oft muss es durchgeführt werden?
Der Gesetzgeber hat bereits im Jahr 2004 das betriebliche Eingliederungsmanagement (auch BEM genannt) gesetzlich verankert, genauer in § 167 Abs. 2 SGB IX. Dieses Instrument findet immer dann Anwendung, wenn Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind. Weiterer Voraussetzungen bedarf es nicht.
Der Zweck in der Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements besteht darin, dass der Arbeitgeber gemeinsam mit dem betroffenen Arbeitnehmer und ggf. vorhandenen Interessenvertretungen die möglichen Ursachen der Arbeitsunfähigkeit versucht zu ergründen und die Beteiligten nach Wegen suchen, in Zukunft eine erneute Arbeitsunfähigkeit nach Möglichkeit zu vermeiden sowie die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu fördern. Das Verfahren ist für den Arbeitnehmer freiwillig.
Hat ein Arbeitgeber ein solches betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt und ist der betroffene Arbeitnehmer vor Ablauf eines Jahres erneut mehr als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt, war in der Rechtsprechung bislang umstritten, ob der Arbeitgeber in diesem Fall zu einer erneuten Durchführung verpflichtet ist.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat sich in einem Urteil vom 18.11.2021 (Az. 2 AZR 138/21) nun zu der Frage positioniert und eine Entscheidung mit großer Praxisrelevanz für Arbeitgeber getroffen. Lesen Sie im Folgenden, worum es im Einzelnen geht.
- Der Sachverhalt
Der Arbeitnehmer war seit dem Jahr 2001 bei der Arbeitgeberin beschäftigt. In den Jahren 2017 bis 2019 war er wiederholt arbeitsunfähig erkrankt und dem Arbeitgeber entstanden in der Folge nicht unerhebliche Entgeltfortzahlungskosten. Der Arbeitgeber lud den Beschäftigten daraufhin am 5. März 2019 zu einem Gespräch zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (kurz: BEM) ein, was auch stattfand. Im Nachgang war der Arbeitnehmer erneut an 79 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt. Mit Schreiben vom 26. Februar 2020 kündigte der Arbeitgeber daher das Arbeitsverhältnis mit dem Beschäftigten ordentlich krankheitsbedingt mit entsprechender Auslauffrist.
Der Arbeitnehmer hat daraufhin Kündigungsschutzklage erhoben und beantragt festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 26. Februar 2020 beendet worden sei. Insbesondere genüge das knapp ein Jahr vor Ausspruch der Kündigung durchgeführte BEM nicht, um darzustellen, dass alles für den Erhalt des Arbeitsplatzes versucht worden sei.
Der Arbeitgeber war hingegen der Meinung, dass die Kündigung aufgrund einer negativen Gesundheitsprognose aus personenbedingten Gründen sozial gerechtfertigt sei. Ein erneutes betriebliches Eingliederungsmanagement habe er vor der Kündigung nicht aussprechen müssen.
2. Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
Das BAG hat in seinem Urteil vom 18.11.2021 entschieden, dass der Arbeitgeber nach einem durchgeführten betrieblichen Eingliederungsmanagement gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX auch dann erneut ein solches durchführen muss, wenn der Arbeitnehmer nach Abschluss des ersten betrieblichen Eingliederungsmanagements innerhalb eines Jahres ein weiteres Mal länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig wird.
Eine Begrenzung der rechtlichen Verpflichtung auf eine nur einmalige Durchführung des BEM im Jahreszeitraum des § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX lasse sich nach Ansicht des BAG weder dem Gesetz entnehmen, noch stehe sie im Einklang mit dem Sinn und Zweck des BEM.
Dieser besteht darin, das Arbeitsverhältnis durch eine geeignete Gesundheitsprävention möglichst zu erhalten. Die Präventionswirkung lässt sich jedoch nicht in gleichem Maße erreichen, wenn trotz der eingetretenen Arbeitsunfähigkeitszeiten von mehr als sechs Wochen zunächst mindestens ein Jahr abgewartet werden muss, bevor ein weiteres betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt werden kann.
Das BAG betrachtet den Abschluss eines betrieblichen Eingliederungsmanagements vielmehr als Tag “Null” für einen neuen Beurteilungszeitraum von einem Jahr. Ein “Mindesthaltbarkeitsdatum” habe ein betriebliches Eingliederungsmanagement nicht, das im Übrigen auch bei einer beabsichtigten Kündigung eines Arbeitnehmers durchzuführen sei.
Führt der Arbeitgeber trotz bestehender Verpflichtung kein betriebliches Eingliederungsmanagement durch, muss er im Zweifel darlegen und beweisen können, dass auch mit Hilfe eines (weiteren) BEM keine Alternative zur Kündigung des Arbeitnehmers bestanden hätte. Kann er dies nicht, werden die Erfolgsaussichten eines vom Arbeitnehmer gegen die Kündigung erhobenen Rechtsstreits hoch sein.
3. Fazit
Das Bundesarbeitsgericht hat mit seinem Urteil bestätigt, dass Arbeitgeber auch solchen Mitarbeitern, die nach Abschluss eines betrieblichen Eingliederungsmanagements gemäß § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX innerhalb eines Jahres ein weiteres Mal länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind, erneut die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements anbieten müssen.
Berücksichtigt der Arbeitgeber dies nicht und spricht er dem Arbeitnehmer gegenüber eine krankheitsbedingte Kündigung aus, riskiert er die Unwirksamkeit der Kündigung. Dies gilt nicht, wenn der Arbeitgeber darlegen und beweisen kann, dass die erneute Durchführung eines BEM entbehrlich war.
Philipp Wolters LL.M. (UK), Partner, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht
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