Insolvenzanfechtung – Zur grob fahrlässigen Unkenntnis des Insolvenzverwalters

Ein Insolvenzverwalter muss die Konten des Schuldners innerhalb eines angemessenen Zeitraums darauf überprüfen, ob ihm die Kontounterlagen vollständig vorliegen und ob diese Anhaltspunkte für die Anfechtung von verdächtigen Zahlungen enthalten. Dies hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden. Tut er dies nicht innerhalb von drei Jahren nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, handelt der Insolvenzverwalter in der Regel grob fahrlässig.

Fallbeispiel: Verspätete Ermittlungen des Insolvenzverwalters

Im Streitfall ließ sich der Insolvenzverwalter ausgiebig Zeit. Die Schuldnerin hatte von ihrer Hausbank mehrere Darlehen erhalten, unter anderem zur Vorfinanzierung einer staatlichen Investitionszulage. Als Sicherheit wurde die Abtretung der von der Schuldnerin beim Finanzamt noch zu beantragenden Investitionszulage an die Hausbank vereinbart. Im November 2008 setzte das Finanzamt eine Investitionszulage für das Kalenderjahr 2007 in Höhe von über EUR 500.000 fest und überwies den Betrag auf das Konto der Schuldnerin, den die Hausbank prompt mit dem offenen Saldo auf diesem Konto verrechnete.

Drei Monate später beantragte die Schuldnerin die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, woraufhin die Hausbank sämtliche Geschäftsbeziehungen mit der Schuldnerin kündigte und nachfolgend ihre Forderung zur Insolvenztabelle anmeldete. Nach weiteren fünf Jahren, im November 2014, forderte der Insolvenzverwalter von der Hausbank die ihm bis dahin nicht vorliegenden Kontoauszüge an. Nach deren Prüfung focht er die Verrechnung der Investitionszulage auf dem Konto der Schuldnerin an und nahm die Hausbank, die zum Zeitpunkt der Verrechnung Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit ihrer Kundin hatte, im Dezember 2017 klageweise auf Zahlung von über EUR 500.000 in Anspruch.

Rechtliche Bewertung und Urteil des BGH

Das Erstgericht hat die Hausbank, die sich auf Verjährung berief, antragsgemäß verurteilt. Auf ihre Berufung hat das Brandenburgische Oberlandesgericht das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Der Rückforderungsanspruch sei verjährt. Ohne grobe Fahrlässigkeit hätte der Insolvenzverwalter spätestens im Jahr 2010 von allen anspruchsbegründenden Umständen Kenntnis erlangt.

Einem Insolvenzverwalter sei grobe Fahrlässigkeit unter anderem dann anzulasten, wenn er einem sich aufdrängenden Verdacht nicht nachgehe oder auf der Hand liegende, erfolgversprechende Erkenntnismöglichkeiten nicht nutze.

Daran gemessen hielt das Gericht dem Kläger schwerwiegende Unterlassungen vor. Der Insolvenzverwalter hätte die Forderungsanmeldung der Hausbank gründlicher auswerten und sich einen besseren Überblick über die Kontobewegungen der letzten drei Monaten vor dem Insolvenzantrag verschaffen müssen. Beide Prüfungen hätten sich aufgedrängt, um rechtzeitig auf anfechtbare Rechtshandlungen zu stoßen. Dabei falle besonders ins Gewicht, dass der Kläger durch die Forderungsanmeldung der Hausbank Hinweise auf die Existenz des streitbefangenen Kontos sowie auf die gewährte Investitionszulage erlangt habe.

Dies ging dem BGH zu weit (vgl. BGH, Urt. v. 27.07.2023 – IX ZR 138/21). Der Hausbank stünde kein Leistungsverweigerungsrecht gemäß § 214 Abs. 1 BGB zu. Der Lauf der dreijährigen Regelfrist des § 195 BGB sei nicht infolge grob fahrlässiger Unkenntnis des Insolvenzverwalters so früh in Gang gesetzt worden, dass die Verjährung bereits vor dem Jahr 2017 eingetreten sei.

Ermittlungspflichten des Insolvenzverwalters

Grundsätzlich setzt grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2, 2. Alt. BGB einen schweren Obliegenheitsverstoß des Gläubigers bei der Verfolgung seines Anspruchs voraus. Dies erfordert bei einem Insolvenzverwalter eine „besonders schwere, auch subjektiv vorwerfbare Vernachlässigung seiner Ermittlungspflichten“, wie zum Beispiel das Unterlassen, einem sich aufdrängenden Verdacht nachzugehen oder auf der Hand liegende, Erfolg versprechende Erkenntnismöglichkeiten nicht zu nutzen.

Danach setzt der Verjährungsbeginn bei versäumter Aufklärung anfechtbarer Vorgänge voraus, dass der Insolvenzverwalter seine Ermittlungspflichten „sowohl in Bezug auf den Zahlungsvorgang selbst als auch betreffs der weiteren anspruchsbegründenden Umstände verletzt hat“. Nur dann kann eine grob fahrlässige Unkenntnis für den Anfechtungsanspruch angenommen werden.

Danach hat der Insolvenzverwalter in angemessener Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens auch ohne konkrete Verdachtsmomente zu prüfen, ob ihm die Kontoauszüge des Schuldners für den kritischen Zeitraum im Sinne der §§ 130, 131 InsO vorliegen und ob diese Anhaltspunkte für anfechtungsrelevante Vorgänge enthalten. Hierfür hat er entsprechendes Personal vorzuhalten oder Dritte als Dienstleister zu beauftragen. Gegebenenfalls hat der Insolvenzverwalter nicht oder nicht vollständig vorliegende Kontoauszüge, jedenfalls bezogen auf den Dreimonatszeitraum vor Insolvenzantragstellung, beim Kreditinstitut anzufordern und auszuwerten.

Zeitliche Grenzen und Konsequenzen der Ermittlungen

Auch wenn es keine festen Höchstfristen gibt, ist zu berücksichtigen, dass ein Insolvenzverwalter nach Verfahrenseröffnung mitunter dringende Aufgaben zuerst erledigen kann und muss. Auch kann er besondere Prüfungsreihenfolgen einhalten, indem er zunächst die Buchhaltung des Schuldners auf inkongruente Zahlungen an institutionelle Gläubiger im letzten Monat vor der Insolvenzantragstellung prüft und erst danach die Prüfung auf Zahlungen innerhalb des genannten Dreimonatszeitraums ausdehnt und dann zeitlich immer weiter zurückgeht. Auch andere Kriterien können eine differenzierte Vorgehensweise rechtfertigen. Dem Insolvenzverwalter steht daher ein angemessener Spielraum zu.

Nach drei Jahren ist Schluss

Allerdings macht der BGH eine zeitliche Einschränkung und gibt der Praxis eine Leitlinie für die Beurteilung des Ermittlungszeitraums: „Im Regelfall ist spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Grenze der Angemessenheit erreicht“. Abhängig von den Umständen des Einzelfalls kann der Insolvenzverwalter sogar gehalten sein, die Ermittlungen schneller zu betreiben.

Je unübersichtlicher die Verhältnisse des Schuldners und je aufwendiger die Auswertung der Forderungsanmeldungen und der vorliegenden Umstände sind, desto weniger kann der Vorwurf grob fahrlässiger Unkenntnis gerechtfertigt sein. Insoweit hat der Insolvenzverwalter im Zuge seiner sekundären Beweislast darzulegen, welche Schritte er unternommen hat, um die Kontounterlagen auf Vollständigkeit und die Kontobewegungen auf verdächtige Buchungen zu überprüfen.

Der Vorwurf grob fahrlässiger Unkenntnis aller anspruchsbegründenden Tatsachen kann dem Insolvenzverwalter jedoch nur dann gemacht werden, wenn „aufgrund konkreter Verdachtsmomente“ Anlass bestanden hätte, „die Anfechtbarkeit des Vorgangs zu überprüfen“. Unterlässt der Insolvenzverwalter in einem solchen Fall gleichwohl weitere Ermittlungen, so ist seine Unkenntnis der anspruchsbegründenden Umstände zu dem Zeitpunkt grob fahrlässig, an dem seine Nachforschungen zum Erfolg geführt hätten“. Solche konkreten Verdachtsmomente können sich aus Forderungsanmeldungen, aber auch aus dem Verhalten des Schuldners ergeben.

Fazit: Bedeutung der Entscheidung für die Insolvenzpraxis

Auch wenn der BGH die Sache mangels hinreichender Feststellungen an das Berufungsgericht zurückverwiesen hat, hat die Entscheidung Signalwirkung. Die Pflicht des Insolvenzverwalters, anfechtungsrelevante Vorgänge zur Massemehrung zu erforschen, gehört zu seinen zentralen Aufgaben. Sie muss innerhalb einer angemessenen Zeit erfüllt werden. Die regelmäßige Überprüfungsfrist für Kontobewegungen des Schuldners im Dreimonatszeitraum der §§ 130, 131 InsO beträgt drei Jahre ab Verfahrenseröffnung. Die Nichteinhaltung dieser Frist kann eine Haftung des Insolvenzverwalters gemäß § 60 InsO begründen.

Über den Autor

Rechtsanwalt Mike Zerbst

Pressemitteilungen

Veranstaltungen

Newsletter

Bücher

Studien & Leitfäden

Videos