Insolvenzanfechtung: Widersprüchliche Rechtsprechung zu § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz

Gerichte betraten Neuland

Nach Inkrafttreten des COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetzes (COVInsAG) am 01.03.2020 und der Einführung des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG, betraten das OLG München (zweite Instanz), das LG München I und das LG Hamburg in ihren aktuellen Entscheidungen Neuland.

Die Urteile des LG München I und des LG Hamburg widersprechen sich in zwei wesentlichen Punkten. Diese betreffen zum einen die Frage der Anwendbarkeit des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG auf Zahlungen nach Stellung des Insolvenzantrags und zum anderen die Frage der Anwendbarkeit des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG auf institutionelle Gläubiger wie Finanzämter und Krankenkassen. Das LG München I vertritt die Ansicht, dass § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG auf Zahlungen nach Stellung eines Eigeninsolvenzantrags keine Anwendung findet und eine Insolvenzanfechtung möglich bleibt. Weiterhin schließt es die Anwendbarkeit des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG für institutionelle Gläubiger − wie das Finanzamt − aus.

Das OLG München ließ die Berufung gegen das Urteil des LG München I bereits im Hinblick auf die fehlende Anwendbarkeit nach Stellung eines Eigenantrags scheitern und erließ einen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO. Das Gericht traf dabei keine Aussage über die Frage, ob sich institutionelle Gläubiger auf § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG berufen können oder nicht.

Das LG Hamburg entschied einen vergleichbaren Fall völlig entgegengesetzt. Danach findet § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG auch Anwendung auf Zahlungen nach Stellung eines Eigenantrags und auf institutionelle Gläubiger wie Sozialversicherungsträger. Gegen das Urteil des Gerichts legte der Kläger Berufung zum Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg (Az. 11 U 172/21) ein. Eine Entscheidung steht derzeit noch aus.

I. Worum geht es bei § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG?

§2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG schließt die Insolvenzanfechtung für kongruente Zahlungen aus, wenn der Schuldner zum Zeitpunkt der Zahlung von der Stellung des Insolvenzantrags gemäß § 1 Abs. 1 COVInsAG befreit war und der Zahlungsempfänger keine positive Kenntnis davon hatte, dass die Finanzierungs- und Sanierungsbemühungen des Schuldners nicht zur Beseitigung einer eingetretenen Zahlungsunfähigkeit geeignet waren.

II. Worum ging es in den konkreten Fällen?

1. Urteil des LG München I vom 13.07.2021, Az. 6 O 17571/20

In dem Rechtsstreit vor dem LG München I klagte der Insolvenzverwalter einer Insolvenzschuldnerin gegen den Freistaat Bayern, vertreten durch das Finanzamt.

Die Insolvenzschuldnerin hatte am 11.05.2020 einen Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt. Das Insolvenzgericht eröffnete dieses am 01.09.2020.

Die Insolvenzschuldnerin zahlte nach Stellung des Antrags Steuern i. H. v. insgesamt 37.207,23 EUR an die Beklagte. Diese forderte der Kläger gemäß §§ 129 Abs. 1, 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO i. V. m. § 143 Abs. 1 InsO zurück.

Die Beklagte berief sich auf den Ausschluss der Anfechtbarkeit gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG.

Das LG München I entschied, dass der Ausschlusstatbestand des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG aufgrund der gebotenen restriktiven teleologischen Auslegung auf den vorliegenden Sachverhalt keine Anwendung fände.

Dies begründete das LG München I wie folgt:

Nach Ansicht des LG München I findet § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG keine Anwendung, da die Insolvenzschuldnerin zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Zahlungen bereits einen Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt und sich somit außerhalb des Schutzbereichs des COVInsAG begeben hatte. Das LG München I verweist auf die Gesetzesbegründung, wonach es Ziel des COVInsAG war, „die Fortführung von Unternehmen zu ermöglichen und zu erleichtern, die infolge der COVID-19-Pandemie insolvent geworden sind oder wirtschaftliche Schwierigkeiten haben. Den betroffenen Unternehmen und ihren organschaftlichen Vertretern soll Zeit gegeben werden, um die notwendigen Vorkehrungen zur zu treffen (…)“ (BT-Drucks. 19/18110).

Dieser Schutzzweck passt demnach nicht in Fällen, in denen der Insolvenzschuldner keinen Gebrauch von der Privilegierung des § 1 COVInsAG macht und stattdessen einen Eigeninsolvenzantrag stellt. Dabei verweist das Gericht darauf, dass der Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG den übergeordneten Zweck verfolgt, den Insolvenzschuldner zu schützen. Entfällt der eigentliche Schutzzweck aufgrund der Tatsache, dass der Insolvenzschuldner sich in ein Insolvenzverfahren begibt, muss auch die korrespondierende Privilegierung für den Anfechtungsgegner entfallen.

Weiterhin ist das LG München I der Ansicht, dass das Finanzamt nicht von dem persönlichen Schutzbereich des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG erfasst sei.  Die Regelung unterscheide nach ihrem Wortlaut zwar nicht zwischen verschiedenen Arten von Gläubigern, aber der Gesetzgeber wollte nach dem Sinn und Zweck nur Gläubiger mit einem vertraglichen Verhältnis zu dem Insolvenzschuldner privilegieren.

Nach der Gesetzesbegründung soll der Anfechtungsschutz des § 2 Abs. 1 COVInsAG auch der „Aufrechterhaltung von Geschäftsbeziehungen zum Schuldner“ dienen (BT-Drs. 19/18110, S. 3, 17). In der Begründung zu § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG führt der Gesetzgeber wie folgt aus:

„Ein Bedürfnis für einen Anfechtungsschutz besteht auch in bestimmten Fällen, in denen kein neuer Kredit im Sinne der Nummer 2 vorliegt. Dies betrifft z. B. Vertragspartner von Dauerschuldverhältnissen wie Vermieter sowie Leasinggeber, aber auch Lieferanten. Wenn solche befürchten müssten, erhaltene Zahlungen im Falle des Scheiterns der Sanierungsbemühungen des Krisenunternehmens mit anschließender Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgrund einer Anfechtung zurückzahlen zu müssen, wären sie geneigt, die Vertragsbeziehung auf dem schnellsten Weg zu beenden, was wiederum die Sanierungsbemühungen vereiteln würde“ (BT-Drs. 19/18110, S. 24; die Hervorhebungen entsprechen der Gesetzesbegründung, fehlen aber in dem Urteil des LG München I, vgl. LG München I, Urteil vom 13. Juli 2021 – 6 O 17571/20 –, juris, Rn. 23).

Aus der Begründung folgt, dass der Gesetzgeber mit der Regelung nur solche Gläubiger privilegieren wollte, die als Vertragspartner in einer freiwilligen Geschäftsbeziehung zum Schuldner stehen. Nur bezüglich dieser Gläubiger macht das Ziel, die Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehungen zu sichern, Sinn. Denn Nicht-Vertragsgläubiger wie etwa Finanzämter, Sozialversicherungsträger und Berufsgenossenschaften − müssen nicht zur Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehungen motiviert werden, da sie gezwungenermaßen – von Gesetzes wegen Gläubiger sind.

2. Beschluss des OLG München vom 20.10.2021, Az. 5 U 4809/21

Das OLG München stütze in seinem Beschluss die Ansicht des LG München I. Danach manifestiere sich in der Stellung eines Eigeninsolvenzantrags der Entschluss der Insolvenzschuldnerin, die Privilegierung durch das COVInsAG nicht in Anspruch nehmen zu wollen. In diesem Fall bestehe aber auch keine Veranlassung, abweichend vom Grundsatz der Gleichbehandlung bestimmte Gläubiger zu bevorzugen.  Denn die Unanfechtbarkeit bestimmter kongruenter Deckungen nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG stelle lediglich einen Reflex der Schuldnerprivilegierung in der Pandemiesituation nach § 1 Abs. 1 S. 1 COVInsAG dar.

3. Urteil des LG Hamburg vom 08.09.2021, Az. 336 O 65/21

Das LG Hamburg entschied einen ähnlichen Fall, wobei es allerdings zu einem anderen Ergebnis kam.

In dem Rechtsstreit vor dem LG Hamburg klagte der Insolvenzverwalter einer Insolvenzschuldnerin gegen einen Sozialversicherungsträger.

Die Insolvenzschuldnerin hatte am 17.07.2020 einen Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens wegen drohender Zahlungsunfähigkeit gestellt. Das Insolvenzgericht eröffnete dieses am 01.10.2020.

Die Insolvenzschuldnerin zahlte nach Stellung des Antrags Beiträge für die Monate Juli bis September 2020 i. H. v. insgesamt 21.902,19 EUR an die Beklagte.

Die Insolvenzschuldnerin überwies die Beiträge mit dem Betreff „Zahlung nur unter dem Vorbehalt der Rückforderung“, nachdem ihre Sanierungsberater der Beklagten am 25.06.2020 die Stellung eines Insolvenzantrags aufgrund der wirtschaftlichen Situation angekündigt hatten.

Die Zahlungen forderte der Kläger gemäß §§ 129 Abs. 1, 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO i. V. m. § 143 Abs. 1 InsO zurück. Die Beklagte berief sich auf den Ausschluss der Anfechtbarkeit gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG. Der Kläger argumentierte u. a., dass § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG bei drohender Zahlungsunfähigkeit keine Anwendung fände.

Das LG Hamburg entschied, dass der Ausschlusstatbestand des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG auf den vorliegenden Sachverhalt Anwendung fände.

Dies begründete das LG Hamburg wie folgt:

Das LG Hamburg wies zunächst auf § 2 Abs. 2, 2. Hs. COVInsAG hin, wonach u. a. § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG ausdrücklich auch auf zahlungsfähige und nicht überschuldete Schuldner Anwendung findet.

Das LG Hamburg geht von einer Anwendbarkeit des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG auch für Zahlungen nach Stellung eines Insolvenzantrags aus. Dies begründet das Gericht mit dem Wortlaut des Gesetzes, der gerade keine Einschränkung vorsehe. Eine teleologische Reduktion schließt das Gericht mangels entsprechender Anhaltspunkte aus. Es argumentiert mit der Gesetzessystematik des § 2 COVInsAG und dem verfolgten Ziel des Gesetzgebers. Dabei stellt es insbesondere darauf ab, dass anderenfalls § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG für den Anfechtungstatbestand gemäß § 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO keine Anwendung fände. Hätte der Gesetzgeber dies beabsichtigt, hätte er dies in den Wortlaut der Norm aufgenommen. Für diese Argumentation spreche, dass gerade bei zahlungsfähigen Schuldnern, auf die § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG Anwendung finden soll (vgl. § 2 Abs. 2 COVInsAG), der Ausschlusstatbestand leerliefe. Denn bei diesen ist lediglich eine Anfechtung von Zahlungen nach Stellung des Insolvenzantrags gemäß § 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO möglich.

Weiterhin ist das Gericht der Ansicht, dass sich dem Willen des Gesetzgebers nicht hinreichend deutlich entnehmen lasse, dass die Sanierungsbemühungen zwingend außerhalb eines Insolvenzverfahrens erfolgen müssen. Denn die Konzeption der Insolvenzordnung sehe die Möglichkeit einer Sanierung nicht schon mit der Stellung eines Insolvenzantrags als gescheitert an.

Dieses Argument nutzt das LG Hamburg auch, um die Kenntnis der Beklagten von der Ungeeignetheit der Sanierungs- und Finanzierungsbemühungen trotz des angekündigten Insolvenzantrags zu verneinen.

Das LG Hamburg problematisierte in seinem Urteil nicht die Frage, ob Sozialversicherungsträger grundsätzlich von dem persönlichen Schutzbereich des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG erfasst sind, sondern nimmt dies ohne Begründung an.

Fazit

Nachdem das OLG München bereits die Ansicht des LG München I zur Frage der Anwendbarkeit des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG auf Zahlungen nach Stellung des Insolvenzantrags gestützt hat, bleibt abzuwarten, wie das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg den Sachverhalt entscheidet. Für beide Rechtsansichten sprechen gute Argumente. Bei der Argumentation des LG Hamburg ist allerdings zu beachten, dass Zahlungen des Insolvenzschuldners an institutionelle Gläubiger, anders als bei wichtigen Lieferanten, die Sanierung des Unternehmens im Rahmen eines Insolvenzverfahrens nicht wesentlich fördern.

Das LG München I hat insofern richtig argumentiert, dass das Finanzamt oder die Sozialversicherungsträger von Gesetzes wegen Gläubiger sind und keine zusätzliche Motivation zur Unterstützung des Insolvenzschuldners benötigen.

Autorin

Rechtsanwältin Viktoria Schabel

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